Für die Filmnacht den Fundus geplündert: Lars und Leif nehmen nicht nur schrille Typen vor die Linse
Aus der HAZ im Februar 1993
Burgdorf. In atemberaubendem Tempo flitzt das Auto den Highway entlang. Sonnenuntergänge, Wüstentäler und schmucke Geschäftspassagen ziehen neben Straßenkreuzern am Auge vorbei - im Zeitraffer, 18 Bilder pro Sekunde. „Get your kicks on Route 66“? Die Homepage an die legendäre Straße von Los Angeles nach Chicago, einst in der Version von Nat „King“ Cole ein Welthit der Swing-Ära, hat ihren Charme verloren. Schnitt für Schnitt haben die Brüder Lars und Leif Schumacher mit der Super-8-Kamera den Mythos von der längsten Straße der Welt, Symbol der amerikanischen Freiheitsliebe, demontiert. Die neuere Fassung des Songs von den Elektrik-Poppern Depesche-Mode unterstreicht diesen Eindruck. Der gekürzte 3-Minuten-Streifen ist jedoch nur ein Ausschnitt aus dem vielfältigen Werk der jungen Burgdorfer: Für die Filmenacht in der Gaststätte „Brandente“ haben sie jetzt zum ersten Mal ihren Fundus geplündert.
Das Ergebnis war eine Mischung aus Reportage, Humor und Unterhaltung, experimenteller Filmerei und Happening. Da begleiten die Zuschauer die Brüder auf ihrem Weg durch die Passarelle in Hannover. „Suburbia“ heißt der Film. Jugendliche sprühen ihre Symbole an die grauen Wände. Ein Penner hat sich in einem Gang zur U-Bahn aufs Ohr gehauen. Zwei Mädchen kauen lustlos auf Big Mäcs herum. Ein Angetrunkener baggert eine Dirne an – Szenen, die jede für sich genommen wenig Sinn machen. Erst durch die schnelle Abfolge und die skurrile Computer-Musik von „Art of Noise“ geben die Bilder eine Aussage her. Im Auge verschmelzen die vielen Schnappschüsse zu einer Momentaufnahme vom hektischen Alltag in der City. Immer in Hast, immer in Eile, nimmt der Otto-Normal-Bürger manche Leute gar nicht wahr. Zum Beispiel den Penner, die Dirne, die Sprayer.
Die Dokumentation ist nur eine Spielart von vielen, derer sich die Brüder bedienen. Viele ihrer Filme leben von den schrillen Typen, die vor der Kamera ihre Show abziehen. Wo gibt´s eine buntere Spielwiese für eine Charakter-Studie als im Hippy-Reich „Zytanien“ bei Immensen? Leif und Lars haben bei den sommerlichen Festivals rastagelockte Musiker mit Sonnenbrillen, total bekiffte Öko-Jünger, kahlgeschorene Mönche (?) und gelenkige Breakdancer vor die Linse genommen. Der Film als Mittel zur Kommunikation. „Wir gehen auf Leute zu, die wir selber interessant finden“, erklärt Lars. Oder der 21jährige Verwaltungsangestellte und sein 18jähriger Bruder (er ist Bürokaufmann) brechen – wie in dem Film „Route 66“ – mit dem Auto in den USA zu neuen Ufern auf. Innerhalb von nur einer Woche legten sie die 2448 Meilen lange Strecke auf der längsten Überlandstraße der Welt zurück. „Wir sind nur geheizt“, erinnert sich Leif: Einer saß hinterm Steuer, der andere hielt die Kamera. Die Ausbeute ihrer Tour nimmt sich vergleichsweise bescheiden aus. 3600 Bilder schrumpfen im Film auf drei Minuten zusammen. Auch über den künstlerischen Wert der Minimal-Technik lässt sich sicherlich streiten. Flimmern solche Sequenzen nicht täglich im Musiksender MTV über die Mattscheibe?
Die Jury eines Film-Wettbewerbs in Alfeld (bei Hildesheim) sah das anders. Sie lobte „die Reduktion des Einsatzes technischer Mittel“ wie den „Verzicht auf die Montage am Schnittpult“ und „den Spaß am Erproben neuer Möglichkeiten“. Und sie verlieh den Brüdern im November 1992 den Goldenen „Huckup-Filmpreis“. Zur Belohnung winkt ihnen jetzt auch ein Freiplatz in einem Video- und Foto-Workshop. Damit aber nicht genug: Schon klingeln Fernsehsender wie der WDR im Hause Schumacher an und bitten um Sende-Erlaubnis für den Film „Route 66“. Kein Grund jedoch für die Jungregisseure, sich auf ihren vier Buchstaben auszuruhen. „Wir würden gern mal einen richtigen Film drehen“, sagt Lars vorsichtig. Doch mehr wird nicht verraten.
Ein Bericht von Antje Hildebrandt
Fotounterschriften: Zwei Jungfilmer auf Erfolgskurs; die Brüder Lars (links) und Leif (rechts) Schumacher stellten Ausschnitte aus ihrem Filmprogramm vor. Kino im Trend der schnelllebigen Zeit: Den Besuchern in der Brandente gefiel´s.