Burgdorf / Lars und Leif Schumacher drehen einen neuen Film - Rettende Engel beeilen sich bei Dreharbeit. Veröffentlicht im: Anzeiger für Burgdorf und Lehrte am 07.05.1996 von Ralf Bierod.
Das Trockeneis in den Schüsseln dampft bereits. Nebelschwaden steigen vom Turm der Pankratiuskirche auf. Erschöpft erreichen die Hauptdarsteller Simone Knoche und Heinz-Peter Tjaden nach dem Aufstieg im Glockenturm die Aussichtsplattform. Regisseur Lars Schumacher wartet bereits. Burgdorf schläft noch an diesem Tag. Es ist 8.30 Uhr. Eine ideale Zeit für Filmarbeit. Kein Lärm wird den Ton schlucken. Lars und Leif Schumacher beginnen mit den Dreharbeiten zu ihrer neuen Produktion. Forneverblind, ein experimenteller Spielfilm mit biblisch poetischem Inhalt über zwei Engel, die einem sterbenden Unfallopfer zu Hilfe eilen.
Zwei Kameras haben die Szenerie auf dem Kirchturm vom Boden aus im Sucher. Von dort oben werden die beiden Engel Zeugen des Unglücks auf der Marktstraße werden. Mit Francois Truffauts Parodie auf das Filmemachen „Die amerikanische Nacht“ hat sich das zwölfköpfige Team vor dem Fernseher auf die komplizierten Außenaufnahmen vorbereitet. „Damit alle wissen, was kommen kann“, schmunzelt Lars Schumacher. Die Zeit drängt nämlich. Bald kehrt auf dem Spittaplatz Leben ein. Und um die Dreharbeiten zu beschleunigen und später den Schnitt zu vereinfachen, sind drei Kameras im Einsatz. Alle sind nervös.
Kontakt per Funk
Per Funk steht der Regisseur mit den anderen Teams auf der Marktstraße und dem Schlossplatz in Kontakt. Simone Knoche trägt als Sendbotin Julie ein Gewand aus dem Fundus der Staatsoper. Die goldenen Flügel reflektieren im Sonnenlicht. Simone schaut auf die so genannten Neger, die Texttafeln, hinter der Kamera. Dieser Dialog soll ohnehin synchronisiert werden, aber die Lippenbewegung muss passen. Simone schaut in die Morgensonne. Das Licht blendet beim Textlesen. Der Regisseur verlangt nach mehr Gefühl in der Stimme und mehr Ausdruck in den Augen. Die beiden Engel stehen zwischen den Schüsseln mit dem Eis, was die Kamera nicht einfängt. Wasser wird nachgekippt, es nebelt heftig um ihre Beine und schon fällt die Klappe für Take eins der ersten Szene.
„Wim Wenders Film Himmel über Berlin hat uns sicherlich inspiriert, auch wenn der Inhalt ganz anders ist“, sagt Schumacher. Spätestens zu den zweiten Burgdorfer Filmtagen im Februar 1997 wird das hiesige Publikum das 16minütige Video zu sehen kriegen. Während Schumacher vom Turm aus das über die Marktstraße heranbrausende Unglücksauto filmt, schminkt Maskenbildnerin Filomena Claudia Angrigento vor dem Kirchportal den dritten Akteur. Für das Unfallopfer, das in dem Film erblinden wird, hat Lars Schumacher einen sehbehinderten Darsteller ausgewählt, um die Situation wirklichkeitsnäher zu machen. Latif Latifi spricht kein Deutsch. Die Verständigung mit dem Jugoslawen erfolgt über zwei Dolmetscher. An der Fußgängerampel vor dem Rathaus I hat der Sportwagenfahrer, so will es das Drehbuch von Jacqueline Brauer, den Spaziergänger Latif erfasst. Der Fahrer flüchtet aus seinem Wagen und verschwindet hinter der Dresdner Bank. Mit blutender Platzwunde liegt Latif auf dem Pflaster. Hier spätestens vermischen sich Film und Wirklichkeit. Ungeachtet der drei Kamerateams, die sich an der Ecke Rathausstraße postiert haben, sehen die vorbeifahrenden Autoinsassen schockiert auf das vermeintliche Unfallopfer. Der Film hat sein erstes Publikum.
Regisseur ist unzufrieden
Die beiden Engel, so steht es im Skript, kommen von ihrem Turm herabgeschwebt, sollen den Verletzten bergen und mit ihm in dem verwaisten Unfallauto davonfahren. Doch Engel Heinz-Peter hat unter den Augen von zahlreichen Burgdorfern, die mittlerweile die Dreharbeiten verfolgen, Schwierigkeiten, den Sportwagen zu starten. Er würgt ihn ab. Team und Zuschauer lachen. Der Regisseur ist unzufrieden. Und während der Verkehr immer dichter wird und immer mehr Passanten mit Zwischenrufen die Aufnahmen stören, muss die minutenlange Szene wiederholt werden. 10.45 Uhr ruft der Regisseur erleichtert „das war es“!
Ralf Bierod
Fotos zum Bericht (1) Morgens um 8.30 Uhr auf dem Kirchturm. Heinz-Peter Tjaden und Simone Knoche lesen als Engel Julie und Lias den Dialog von Texttafeln ab. (2) Um das Unfallopfer (Latif Latifi) zu retten, steigen die Engel vom Turm herab. (3) Lars Schumacher ist mit dem Funkgerät immer in Kontakt zu den drei Filmteams.
Bei Festivals immer nervös
„Bei Festivals bin ich immer nervös“, sagt Lars Schumacher. „Dann sitzt man da und kann nichts mehr ändern“. Mit Trickfilmen, Dokumentationen und Experimentalfilmen hat der 25jährige Burgdorfer gemeinsam mit seinem drei Jahre jüngeren Bruder Leif seit 1989 zahlreiche Filmpreise errungen. 1995 veranstalteten die Brüder die ersten Burgdorfer Filmtage, und in diesem Jahr haben sie den Verein Medienhaus für Kunst und Kultur Burgdorf gegründet.
Ihr Kurzfilm Route 66 ist bei mehr als 20 Festivals gelaufen. Die Fahrt mit dem Zeitraffer über Amerikas legendäre Fernstraße wurde 1993 vom WDR gesendet. Auch das erste russische Fernsehen strahlte einen Beitrag aus. Produktionen der Schumachers liefen bei Filmtagen in Tokio, Warschau, Lissabon und Salzburg. „Das ist ein Hobby von uns“, sagt der Stadtangestellte. 1989 bekam er noch als Schüler eine Videokamera der Kreisbildstelle Sehnde in die Hände. „Da war gerade Grenzöffnung“. Und mit den Bildern von jubelnden Menschen in Helmstedt beeindruckte Schumacher seine Freunde. An der Filmhochschule München hat er sich beworben, aber keinen der raren Plätze bekommen. Seitdem ist Regisseur kein Berufswunsch mehr. „Es sei denn, es kommt mal jemand und bietet uns was an“.
Veröffentlicht am: 07.05.1996 im: Anzeiger für Burgdorf und Lehrte (HAZ/NP)